Die Zukunft nicht aus den Augen verlieren

Im letzten Jahr haben in unserer Region so viele Mitglieder ihren Austritt aus der Katholischen Kirche gegeben wie nie zuvor. Die Institution «Kirche» hat durch die Aufdeckung der Missbrauchsfälle Schaden genommen. Das bringt zwar die Kirchen als Organisationen in Bedrängnis, aber gottseidank nicht das, worum es im Kern geht: den christlichen Glauben selbst. Doch spüren alle kirchlichen Institutionen die Folgen der Austritte: das Bistum Basel, die Landeskirche Aargau, erstaunlicherweise auch die Reformierte Landeskirche, und die Kreiskirchgemeinde Aarau sowie die ihr zugehörigen Ortskirchgemeinden. Sie alle müssen Dienstleistungen abbauen, wenn die Steuergelder der ausgetretenen Mitglieder wegfallen.

Wenn sich Christinnen und Christen aus der Kirche verabschieden, weil sie die Fehler und Versäumnisse von Leitungspersonen, die zum grossen Teil nicht mehr leben, nicht tolerieren wollen, ist das verständlich und nachvollziehbar. Was sie jedoch mit ihrem Austritt auch bewirken: Sie entziehen der jetzigen Generation von Menschen, die sich für die Kirche von heute und die Kirche der Zukunft einsetzen, jene finanziellen Mittel, die dafür verwendet würden, eine neue, zeitgemässe Kirche zu gestalten. Mittel, die benötigt würden, lebensnotwendige Dienstleistungen zu erbringen. Mittel, über die weder der Staat noch soziale Institutionen verfügen.

Es geht nicht in erster Linie um den Erhalt von Sakralbauten oder um die Lohnfortzahlung von kirchlichen Angestellten. Es geht darum, der jetzigen Generation und den künftigen Generationen auch in Zukunft Werte und Perspektiven zu vermitteln, welche die heutige Zivilgesellschaft der 2000-jährigen Geschichte des christlichen Glaubens zu verdanken hat: den Wert der Mitmenschlichkeit, den Wert der Fürsorge für Menschen, die Not leiden, den Wert der Hoffnung, dass der Mensch nicht in letzter Instanz auf sich selbst gestellt ist, sondern den göttlichen Beistand für sich beanspruchen kann.

Mit dem Austritt aus der Katholischen Kirche wird der Institution, die gewiss – wie jede andere von Menschen gestaltete Institution – nicht ohne Fehltritte ist, nachhaltig Schaden zugefügt. Und es ist fraglich, ob dies sinnvoll und ein guter Weg ist.

Die Resultate der Vorstudie zu den Missbrauchsfällen während der letzten 70 Jahre haben das Vertrauen in die Katholische Kirche in der Schweiz erschüttert und ihre Glaubwürdigkeit in Frage gestellt. Die historisch fundierte Aufarbeitung ist wichtig und richtig. Sie ist kein Trost für die von Gewalt und Missbrauch Betroffenen. Sie kann jedoch eine Art von Anerkennung und Genugtuung für das erlittene Leid ermöglichen. Aber der Blick in die Vergangenheit ist einseitig. Er dient lediglich der Bewältigung von Vergangenem und der möglichst gelingenden Wiedergutmachung des Geschehenen.

Sie, liebe Leserinnen und Leser, stehen nicht in der Verantwortung, zur Bewältigung der Vergangenheit der Katholischen Kirche in der Schweiz beizutragen. Im Gegenteil. Sie sind eingeladen, die Zukunft der Katholischen Kirche in Ihrer Pfarrei, in Ihrer Ortskirchgemeinde mitzugestalten.

Sie entscheiden mit Ihrer Mitgliedschaft, ob es weiterhin möglich sein wird, als Gemeinschaft Gottesdienste zu feiern und den Menschen katholischen Glaubens eine spirituelle Heimat zu schenken. Sie entscheiden mit Ihrer Mitgliedschaft, ob es weiterhin möglich sein wird, im diakonischen Dienst den Hilfsbedürftigen vor Ort zu helfen und so die Kirche für die sozial Ausgegrenzten zu einer glaubwürdigen Ansprechpartnerin zu machen. Sie entscheiden mit Ihrer Mitgliedschaft, ob Ihren Kindern und Enkelkindern, den Schülerinnen und Schülern in der Katechese und den Jugendlichen in der Jugendarbeit weiterhin jene Werte vermittelt werden sollen, die einerseits ein friedliches Miteinander in unserer kulturell immer pluraler werdenden Gesellschaft ermöglichen und die andererseits einen wesentlichen Teil unserer kulturellen Identität ausmachen.

Und Sie entscheiden letztlich darüber, ob viele Menschen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Pfarreileiterinnen, Priester, Diakone, Chorleiterinnen, Organisten, Katechetinnen, Sakristane, Ministranten und unzählige freiwillig Tätige sich aus innerer Überzeugung ihres Glaubens dafür einsetzen können, Gutes in Ihrer Pfarrei vor Ort zu bewirken. Es steht viel auf dem Spiel, wenn wir durch den Blick in die Vergangenheit die Zukunft der Kirche aus den Augen verlieren.


15. April 2024 | Dani Schranz ›