«Ich wollte zuerst Lebenserfahrung sammeln, um den Menschen möglichst viel geben und sie gut begleiten zu können.»

«Gut, hast du es endlich gemerkt.»

Seit einigen Wochen leitet Viktoria Vonarburg die Pfarrei Heilige Familie in Schöftland. Im Gespräch erzählt sie, wie sie ihren Weg in die Theologie gefunden hat und was sie heute antreibt.

Dani Schranz: In welchem Alter hat sich dein Wunsch entwickelt, Theologie zu studieren?

Viktoria Vonarburg: So richtig mit 18½, gerade als ich die Matura gemacht hatte, aber eigentlich geht der Wunsch viel weiter zurück. Der Glaube war immer ein wichtiger und selbstverständlicher Teil meines Lebens. Aber wegen blöder, despektierlicher Sprüche von Mitschülern sagte ich stets: auf keinen Fall Theologie. Ich wollte Pädagogik und Psychologie studieren. Als es dann auf die Matura zuging, wollte ich mich bereits an der Uni Zürich einschreiben, aber ich habe einfach nie auf «Absenden» gedrückt. Irgendetwas sträubte sich in mir. Ich habe gemerkt: Es würde mir nicht genügen, den Menschen nur für sich allein anzuschauen, ohne auch seine Beziehung zu Gott mitzudenken. So habe ich mich in den Sommerferien fürs Theologiestudium angemeldet und mich gefragt, wie ich das nun meinen Kolleginnen mitteilen will. Es war dann lustig, wie sie reagiert haben. Alle sagten: «Gut, hast du es endlich gemerkt.» Ihnen war immer klar, dass Theologie das Richtige für mich ist.

Man findet von dir im Internet die Aussage: «Gott nimmt unser Leben mit all seinen Höhen und Tiefen an. Er liebt uns mit allem, was uns gelingt, aber auch in unserem Scheitern bleibt er bei uns.» Wie wichtig ist dir in deiner Tätigkeit dein persönlicher Glaube?

Sehr wichtig. Der Glaube ist das, was mich trägt und mir Kraft gibt. Ich kann nicht über den Glauben reden, wenn ich ihn selbst nicht habe. Ich kann Menschen nicht auf diesem Weg begleiten, wenn ich nicht selbst vom Glauben ergriffen bin. Und dazu gehört, dass es ein gereifter Glaube ist, der selbst durch Tiefen, Zweifel und Herausforderungen gegangen ist. Nur so kann ich Menschen verstehen. Es ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen, wenn man glaubt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Leute froh sind, wenn sie in einer Predigt oder im persönlichen Gespräch erfahren, dass ich als Theologin auch Momente kenne, die anspruchsvoll sind, in denen ich an Gott zweifle. Das hilft ihnen, zu akzeptieren, dass Zweifel Teil unseres Glaubens, unserer Beziehung mit Gott sind – wir müssen diese nicht verleugnen. Und es macht ihnen Mut, belastende Situationen und schwierige Themen anzusprechen.

Gibt es theologische Themen, die dich besonders faszinieren oder herausfordern?

Ja, viele Themen faszinieren mich. Aber das herausforderndste Thema ist die Frage, die sich wohl alle Menschen schon gestellt haben und über die ich auch meine Doktorarbeit verfasst habe: Woher kommt das Böse? Warum gibt es das Böse, wenn wir an einen allgütigen Gott glauben, der Liebe ist und die Welt gut erschaffen hat?

Diese Arbeit wurde 2017 zur besten Dissertation der Theologischen Fakultät erklärt und mit dem Dissertationspreis der Universität Luzern ausgezeichnet. Beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche akademische Laufbahn. Nun hast du dich entschieden, die Pfarreileitung in Schöftland zu übernehmen. Was hat dich zu diesem Richtungswechsel bewogen?

Ich habe das Studium mit dem Ziel begonnen, einmal in einer Pfarrei zu arbeiten. Nach dem Studium, mit 24, war ich noch nicht bereit für die Pfarreiarbeit. Ich wollte zuerst Lebenserfahrung sammeln, um den Menschen möglichst viel geben und sie gut begleiten zu können – auf ihrem Weg in der Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen. So bin ich an der Uni «hängen geblieben» und habe nebst der Dissertation auch noch eine Habilitation begonnen, die schon sehr weit fortgeschritten war.

2019, als ich für einen Forschungsaufenthalt längere Zeit in Israel war, habe ich gemerkt: Ich bin an der Uni nicht mehr am richtigen Ort. Zehn Jahre zuvor war ich auf dem Jakobsweg. Damals hatte ich mich gefragt: Wo will ich in zehn Jahren sein? Ich setzte mir damals das Ziel, in einer Pfarrei zu arbeiten – aber man gewöhnt sich an den Uni-Alltag in Forschung und Lehre. Er ist schön, er ist spannend, man kann viel lernen und sein Wissen vertiefen. Doch ich habe mein ursprüngliches Ziel aus den Augen verloren.

Dann habe ich mir gesagt: Eigentlich habe ich jetzt genau jene Lebenserfahrung, die ich mir damals im Studium vorgestellt hatte. Das war der ausschlaggebende Punkt. So habe ich mich entschieden, die Habilitation nicht abzuschliessen und nicht in der wissenschaftlichen Laufbahn zu bleiben. Im Sommer 2020 habe ich in zwei Pfarreien in Bern angefangen zu arbeiten. Einige Zeit nach der Berufseinführung merkte ich, dass ich bereit bin, eine Leitungsfunktion zu übernehmen und herauszufinden, ob mir diese Aufgabe zusagt – auch im Hinblick darauf, ob später vielleicht auch eine Pastoralraum-Leitung etwas für mich sein könnte. So habe ich die Chance wahrgenommen, in Schöftland tätig zu sein, in einer Pfarrei mit einer Ausrichtung, die mir sehr entspricht.

Was sind deine Wünsche für die Pfarrei, aber auch für dich persönlich?

Ich möchte herausfinden, wie wir Glauben und Kirche heute leben können. Ich möchte, dass das, was wir leben und verkünden, relevant ist und auch als relevant wahrgenommen wird – und den Menschen etwas gibt. Das ist herausfordernd, aber auch faszinierend. Die Volkskirche ist ja schon lange keine Realität mehr, aber in den Strukturen lebt sie weiter. Wir müssen uns auf die Suche machen nach der Form, wie wir heute Gemeinschaft und Kirche miteinander leben können. Wir haben viele Möglichkeiten, Neues auszuprobieren, Neues zu denken und mit Versuch und Irrtum herauszufinden, was uns heute trägt. Wir können mit den Leuten im Gespräch sein, synodal unterwegs sein und hören, welche Bedürfnisse sie haben – und so ein Miteinander gestalten.

Welche Rolle sollte die Kirche in der Gesellschaft einnehmen, insbesondere im Hinblick auf die nächste Generation?

Mir ist es wichtig, dass wir eine Stimme der Hoffnung sind. Gerade die junge Generation ist mit vielen Ängsten und Herausforderungen konfrontiert. Während der Corona-Zeit ging eine Schockwelle durchs Land. Viele junge Menschen haben psychisch darunter gelitten. Das zeigt, wie wichtig es ist, eine Stimme der Hoffnung zu sein, die Trost und Halt anbietet in einer Zeit, in der vieles unsicher ist, in der Künstliche Intelligenz oder Roboter Arbeitsplätze bedrohen und Kriege um sich greifen.

Ich finde es wichtig, dass wir eine Stimme sind, die bei schwierigen Themen auch eine Gegenstimme zum Mainstream sein kann – die sich traut, kritische Fragen zu stellen und Dinge zu benennen, die dem Wohl der Allgemeinheit nicht förderlich sind. Schwache Gruppen werden übersehen, fallen durch die Maschen oder werden ausgeschlossen. Es ist mir wichtig, die Aufmerksamkeit wieder auf diese Menschen zu richten, damit sie wieder in unserem Blickfeld sind, gesehen und gehört werden und ihren Platz in der Gesellschaft finden. In meinen Predigten ist es mir stets ein Anliegen, Hoffnung in den Alltag zu geben – eine Hoffnung, die einen stärkt und mit Zuversicht weitergehen lässt.

Wie findest du einen Zugang zu Menschen, die mit Kirche oder Glauben wenig anfangen können?

Eigentlich ganz natürlich. Viele meiner Freunde sind nicht kirchlich eingebunden, sind Atheisten. Mit diesen Menschen finden oft die spannendsten Gespräche statt. Ich habe festgestellt, dass gerade überzeugte Atheisten sich stark mit Religion auseinandergesetzt haben und kritische Fragen stellen. Das hilft mir immer wieder, meine eigene Sicht zu überdenken, klarer zu sehen und herauszufinden, wo ich genau stehe, und warum ich glaube, was ich glaube. Das finde ich sehr anregend und sehe das als Chance, daran zu wachsen und in meinem Glauben klarer zu werden.

Gibt es Menschen, die dich auf deinem Weg besonders geprägt haben?

Ja, natürlich: meine Familie, Grosseltern und Eltern, die ganz selbstverständlich den Glauben vorgelebt und mir mitgegeben haben.

Was machst du, wenn du nach der Arbeit abschalten willst?

Ich lese gern, ich stricke gern, ich wandere gern, treffe mich gern mit Freunden oder verbringe Zeit mit meiner Familie. Auch das Musizieren ist ein schöner Ausgleich. Im Kindergarten habe ich angefangen, Geige zu spielen. Ich nehme die Geige immer mal wieder hervor, aber nicht so oft. Während des Theologiestudiums habe ich im Nebenfach Kirchenmusik belegt und mit Orgelspielen begonnen. Während des Studiums war ich als Zweitorganistin und später als Aushilfe tätig. Heute muss ich mir die Zeit immer erst suchen, um hinzusitzen und Musik zu machen. Musizieren gehört zu den Dingen, die mich erden, weil ich mich ganz auf ein Musikstück konzentrieren muss. Da gibt es keine Möglichkeit, dass die Gedanken irgendwohin abschweifen.


24. November 2025 | Dani Schranz