Zu Gast im Kloster. Ein Bericht.

«Die weisse Arche» in Disentis/Mustér

Mein Zimmer liegt im Klausurteil des Benediktiner-Klosters Disentis, dessen Geschichte bis ins 8. Jahrhundert zurückreicht. Hier werde ich als Gast der Mönchsgemeinschaft sechs Tage in der Stille verbringen. Ohne Handy, PC und alles Digitale. Nur wenige Schritte durch den Gang, und ich gelange in den oberen Chor der Klosterkirche St. Martin, ein Meisterwerk barocker Baukunst aus dem 18. Jahrhundert. Hier versammeln sich die Mönche zu den Stundengebeten, zu Vigil und Laudes um 5.30 Uhr, zur Mittagshore, zur Vesper um 18 Uhr und zur Komplet um 20 Uhr. Die Messe um 7.30 Uhr feiern sie im unteren Chor in der Kirche. Als Gast darf ich an den Stundengebeten teilnehmen und gemeinsam mit den Mönchen im Refektorium, einem grosszügig bemessenen Raum mit Arvenholzdecke, die Mahlzeiten einnehmen. So erhalten die Tage Gliederung und Struktur.

Anfänglich komme ich mir vor wie ein Kleinkind, das die Erwachsenen beobachtet und ihre Handlungen nachzuahmen versucht. Viel zu lernen gibt es für mich während der Gebetszeiten: Die Noten der Psalmen, die im Wechsel von einem Vorsänger und den Mönchen gesungen werden, sind in ein altes System mit vier Notenlinien gedruckt, die Feiern sind bis ins Kleinste durchorchestriert. Alle ausser mir scheinen genau zu wissen, was wann gesungen oder gesprochen wird, welche Stellen wiederholt werden, wie lang die Pausen zwischen den Psalmversen zu dauern haben. Es vergehen zwei Tage, bis ich mich in der Struktur einigermassen zurechtfinde. Nach jeder Feier fühle ich mich der Mönchsgemeinschaft etwas mehr zugehörig. Besonders dann, wenn Touristen unten im Kirchenschiff umhergehen und ihre Handys zum Fotografieren schwenken, werden die Mönche und ich zum «Wir», die Touristen zum «Sie». Dann fühle ich mich privilegiert, einen Schlüssel zur Klausur und einen Platz am Tisch im Refektorium zu haben.

Die Männer, die hier im Kloster miteinander leben, lerne ich auf eine unübliche Art kennen. Da nicht gesprochen wird, erfahre ich nichts zu ihrer Geschichte oder ihrer Wertehaltung. Ich kann sie keinem Milieu zuordnen, sondern nehme sie ausschliesslich durch ihre Wirkung wahr: Es gibt den Demütigen, der die Psalmen mit geschlossenen Augen singt und auf mich gottesfürchtig im alttestamentarischen Sinn wirkt. Es gibt den Unsicheren, dessen Stimme leicht zittert, wenn er als Lektor an der Reihe ist. Es gibt den Wohltäter, der dem Gast beim Betreten des Refektoriums den Vortritt lässt. Es gibt den Barmherzigen, der die Essensreste eines Mitbruders, der sich zu viel geschöpft hatte, wegkippt. Es gibt den Eitlen, der in reinem Bühnendeutsch vorliest und seine Stimme wie ein Flight-Attendant bei der Durchsage der Sicherheitsanweisungen intoniert. Es gibt den Begeisterten, den das Glück, Teil der Klostergemeinschaft zu sein, erstrahlen lässt. Es gibt den Mönch mit der Stimme einer Nachtigall, um die ich ihn beneide. Es gibt den Taktgeber, der die Mitbrüder mit seinen Augen diszipliniert wie ein Schlagzeuger seine Bandmitglieder. Und es wird den Unscheinbaren geben, den ich nicht wahrgenommen habe, er möge mir verzeihen.

Die stillen Tage im Kloster mit ihrer klaren Struktur wirken sich entschleunigend auf mein Empfinden aus. Sie sind eine Wohltat. Nichts geschieht hier gleichzeitig, nichts zufällig. Für jede Handlung im Tagesablauf gibt es einen Grund, und jede Tätigkeit hat ihre Wichtigkeit und ihre eigene Dauer. Sie kann weder beschleunigt noch abgekürzt oder verlängert werden. Und sie wird durch nichts gestört. Die langen Zeiten, die ich mit mir in der Stille verbringe, dehnen sich. Die Stunden fliessen langsam und stetig wie ein breiter, weiser Strom, Räume weiten sich, eine grosse, inneren Ruhe breitet sich aus. Es ist so viel Zeit, Gedanken zu vertiefen und zu Ende zu denken. Ohne Ablenkung oder Unterbrechung durch belangloses Geschwätz, Anrufe, Textnachrichten, vermeintlich Drängendes. Ich vermisse das Handy keinen Moment. Ich bin angekommen.

Nach sechs Tagen fühle ich mich so geerdet und eingemittet wie kaum je zuvor. Und ich stelle mir die Frage, ob es mir gelingen wird, etwas von der Einfachheit und Schönheit der Zeit im Kloster in den Alltag zu integrieren. Ich nehme es mir vor.

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18. Oktober 2021 | Dani Schranz