
Paste-up “New Education” von Tim Ossege, alias seiLeise, fotografiert am 27.9.2025 im Pariser Quartier Belleville-Ménilmontant. (Foto: P. Bernd)
Revolution des Herzens – Weihnachtliche Grüsse zwischen dem Café “Le Dorothy” in Paris und der örtlichen Pfarrei
„Die größte Herausforderung unserer Zeit lautet: Wie können wir eine Revolution des Herzens herbeiführen, eine Revolution, die bei jedem Einzelnen von uns beginnen muss?“
Dorothy Day
Ein Gruß zu Weihnachten ist für mich ein Innehalten im wörtlichen Sinn: Für kurze Zeit stehenbleiben, alles andere lassen, nach innen schauen und an gute Menschen denken, an die Freundinnen und Freunde zumal, und dann meinen fast einzigen richtigen Brief des Jahres schreiben. Meine Gedanken anzuhalten, fällt mir aber doch schwer, und das Loslassen sowieso, um dieser Erinnerung an eine Zeitenwende Raum zu geben, die immer noch viele Menschen bewegt, ihr Leben befragen. Eine Erinnerung, die mit dem bloßen Dasein des Weihnachtsfestes am Ende des Jahres doch noch dieses andere Wort von Frieden und dem Recht eines jeden Menschen, zwar mit viel Glitzer zugedeckt, nicht ganz vergessen lässt. Da ist es gut, dass sich „rund um den geweihten Abend“ (Herbert Grönemeyer) auch das Jahr wendet; und auch ich schaue wie alle zurück und voraus.
Dass ich jetzt seit gut einem Jahr an neuem Ort wohne und arbeite, wäre Gelegenheit, davon zu berichten. Aber ich frage lieber danach, was mich zur Hoffnung als – sagen wir einmal – revolutionärer theologischer Tugend wenigstens an manchen Tagen des Jahres inspiriert.
So ein Tag war der 27. September. Wir waren eine ansehnliche Gruppe von zumeist kirchlich irgendwie engagierten Menschen mit ganz diversen Lebensentwürfen, die sich für ein Wochenende in Paris trafen. Eine gute Freundin aus Biel/Bienne hatte schon Monate vorher angeregt, das Café „Le Dorothy“ im Pariser Quartier Belleville-Ménilmontant kennenzulernen, dort, wo damals die letzte Barrikade der Pariser Kommune fiel. Irgendwie spürt man diesen Hauch noch in Belleville. Hier finden bis heute Menschen zusammen, die nichts haben als ihr Leben, und andere mit großem Herzen und einem sozialen Gewissen, das sie unermüdlich sein lässt. Die Geschichte des vormaligen „Relais Ménilmontant“ und der Bezug zur wenige Meter entfernten Kirche Notre-Dame de la Croix könnt Ihr auf der Webseite von www.ledorothy.fr nachlesen. Für eine unkomplizierte Übersetzung aus dem Französischen helfen inzwischen ja ganz gut funktionierende Werkzeuge im Netz.
Unsere Gruppe wird im „Café solidaire“ so herzlich und offen begrüßt wie alle Menschen: Einige von ihnen kommen regelmäßig, und jeden Tag sieht man wieder neue Gesichter. Und es sind immer freiwillig Engagierte da, die einen ansprechen. Auch ich erlebe das, als ich mich etwas umschaue, und bedanke mich: „Ich gehöre zu der Gruppe da – aus der Schweiz.“
Und erlebe einen besonderen Ort der Begegnung. Rundherum sind Menschen, sitzen und trinken zusammen, planen etwas, andere holen ein Spiel aus einem Regal, andere sitzen zusammen, um unter künstlerischer Anleitung in künstlerische Collagen zu bringen, was sie gerade gemeinsam beschäftigt.
Es sind vor allem junge Katholik:innen zwischen 20 und 35, die das Team vom Dorothy prägen – neben denen anderer oder ohne Konfession – verbunden unter der Parole der Solidarität.
Mit einem Blick von außen beschreibt das Magazin der Zeitung „L’Humanité“ es so: „Das Dorothy ist gleichzeitig ein solidarisches Café, ein Ort für Aktivisten und Vereine, ein Kultur- und Musikzentrum, ein Konferenz- und Coworking-Raum. Es verdankt seinen Namen Dorothy Day (1897-1980), einer amerikanischen katholischen Journalistin, Gründerin der katholischen Arbeiterbewegung, die sich zeitweise dem Anarchismus verschrieben hatte und sich für soziale Gerechtigkeit und das Wahlrecht für Frauen einsetzte. Es versteht sich als Treffpunkt für alle progressiven Katholiken der Hauptstadt. ‚Es ist ein Ort, an dem wir die Soziallehre der Kirche bekannt machen und leben wollen‘, erklärt Alexis Lemétais, Präsident des Dorothy. ‚Das heißt, wir begnügen uns nicht damit, beispielsweise mit Obdachlosen solidarisch zu sein, sondern versuchen auch zu erklären, warum das System Elend und Obdachlosigkeit hervorbringt.‘“
Davon erzählt auch Thibault Delarue, ehrenamtlicher Mitarbeiter im Dorothy. Inzwischen haben wir alte Sessel, zwei Sofas und Stühle zusammengeschoben, die ihre eigne Geschichte haben und im Dorothy neue Heimat fanden. Alle sind gespannt dabei und interessiert. Fragen werden gestellt; auch ganz banal, woher das Geld kommt – im Umfeld einer Kirche ohne Kirchensteuern, wenn selbst die Pfarrei, der die Räume gehören, vom Dorothy, Ort engagierter Christ:innen, monatlich 3000 Euro Miete verlangt.
Was das Eigentliche dieses Ortes sei, betont Thibault, dass er ein Ort des Wortes sei. Nichts beginnt, ohne dass etwas ins Wort gebracht wird, dass Menschen miteinander ins Gespräch kommen, dass sie überhaupt zu reden anfangen, dass Menschen einander zuhören. Aber vor allem auch, gemäß dem, was ich gelernt habe, nämlich dass Praxis Aktion und Reflexion bedeutet, beide untrennbar sind, organisierte „Wortanlässe“: Man kann bei einer Konferenz oder einem Kaffee den Kommunisten Bernard Friot, Verfechter des Grundeinkommens, treffen oder den Theoretiker des Ökosozialismus Michael Löwy oder die Antikapitalisten des Kollektivs Anastasis (www.anastasis.org), in deren Reihen sich die Initiator:innen des 2017 gegründeten Dorothy finden: Eine Gruppe von Freunden, die ihr Studium an der „SciencesPo“ abgeschlossen hatten und feststellten, dass die katholische Gemeinschaft von der Rechten und der extremen Rechten vereinnahmt wird. Diese jungen widerständigen Katholik:innen veranstalten auch einmal im Jahr das „Festival des Poussières“, „Staubfestival“, mit Vorträgen, Ateliers, Diskussion, Gottesdienst in der Nähe von Dijon. Leben Kirche, wie sie biblisch gedacht war. Sind an den wichtigen Demos auf der Straße dabei, die der zweite Ort von Kirche sein könnte. Seit kurzem entsteht aus ihren Reihen heraus eine neue Zeitschrift: „Le cri“. „Der Schrei“.
„Im Anfang ist der Schrei“, so variiert in einem Buch der irisch-mexikanische Politikwissenschaftler John Holloway, den Beginn des Johannesevangeliums, der am Weihnachtstag in den Kirchen gelesen wird. Nicht das Wort, „sondern der Schrei“, sagt er. „Angesichts der Verstümmelung des menschlichen Lebens durch den Kapitalismus, ein Schrei der Trauer, ein Schrei des Entsetzens, ein Schrei des Zorns, ein Schrei der Verweigerung.“
„Die Menschen beginnen zu erkennen, dass sie keine Individuen, sondern gesellschaftsverhaftete Personen sind, dass der Mensch allein schwach und orientierungslos ist und dass er seine Stärke im gemeinsamen Handeln suchen muss.“
Dorothy Day
Wer an die aus der jüdischen Tradition stammende Metapher „Schwarzes Feuer auf weißem Feuer“ denkt, der findet in den Zwischenräumen der schwarzen Buchstaben der Schrift, hier des Wortes ‚Wort‘ auch den Schrei von Menschen als weißes Feuer bis zum Schrei des Messias Jesus, der das Wort, das bei Gott war, verkörpert. Das weiße Feuer des Pergaments in den Zwischenräumen der schwarzen Buchstaben ‚w o r t‘ sucht der Evangelist vielleicht in dem, was er in seinen ersten schwarz geschriebenen Sätzen sagen möchte: Leben und Licht in dem Messias, und unauslöschbares Wort von Gott: Befreiung für alle nach unten gedrückten Menschen.
Auf der Vorderseite sind erste Wörter aus dem Weihnachtsevangelium zu lesen. Und dann seht Ihr das Foto eines Paste-up von Tim Ossege, alias seiLeise, einem Streetartkünstler aus Köln, auf den ich mich ja schon manches Mal bezogen habe. Tim gibt ihm den Titel “New Education”. Es schmückt nicht zufällig die Karte: Das Foto wurde am selben Tag vormittags im Quartier Belleville aufgenommen, an dem wir dann im „Le Dorothy“ waren, diesem Raum des Wortes. Per Mail hatte Tim, den ich einmal in seinem Ausstellungsraum in Köln besucht hatte, eingeladen, seinen Spuren zu folgen, die er kurze Zeit vorher in Belleville an den Wänden hinterlassen hatte und die oft schnell wieder auf behördliches Geheiß entfernt werden. Mit einer Handvoll Leute aus der Gruppe haben wir dies dann auch in Angriff genommen – eine spannende Suche durch alle möglichen Straßen und Gassen. In der rue des Cascades sind wir dann auch auf viele weitere Streetartwerke gestoßen. Beim interessierten Betrachten, Reden und Fotografieren grüßt uns eine Frau mit ihrem Sohn an der Hand lächelnd: „Bienvenue dans notre quartier!“
Das Bücher lesende kluge Mädchen von seiLeise ist mir in Paris zum ersten Mal begegnet. Das Paste-up hat ja etwas Ambivalentes. Was liest es schwarz auf weiß oder wird ihm zum Lesen gegeben? Erkennt es etwas in den Zwischenräumen des Textes? Die wohl kaum zufällig englischen Buchtitel verschlagen einem eher den Atem: „Tactics“, „Technology“, „Doctrin“, „Analyses“ – ein ganzes Karrierevokabular des herrschenden Systems. – Es bleibt aber völlig offen, ob auf Funktionieren getrimmte junge Menschen Gelesenes in den „Aufstand des Wortes“ wenden, das am Anfang war.
So schaue ich mit dem, was mir aus einem „zu Hoffnung“ inspirierenden Wochenende in Paris geblieben ist, auf Weihnachten 2025. Und das hat alles mit Menschen zu tun, die jede und jeder anders, so wie es einer und einem gegeben ist, und vielleicht mit ganz neuen Versuchen, das leben möchten, was Solidarität genannt wird, das, was Kirche sein könnte, die Räume des Wortes auftut und das offene solidarische und kritische Wort aus ihrem biblischen Wortschatz weitersagt und in das Jahr 2026 hineindeutet.
Auch am neuen Wohnort und am neuen Arbeitsort sehe ich viele Menschen, die sich auf so viele Weise, kreativ und hartnäckig, kritisch und offen, mit Freude und Mut, mit Lust und aus Überzeugung engagieren oder einfach da sind, z.B. bei einem Menschen, wenn es gut ist, dass eine/r da ist.
Dafür danke ich Euch, soweit dies an mir ist, von Herzen: Den Menschen aus der Pfarrei St. Johannes und den anderen Orten, den Freundinnen und Freunden, Geschwistern und Menschen, die mir für einen Moment nur begegnet sind. Ich denke dabei vor allem auch an die „Worträume“, die Ihr aufmacht und die man gerne betritt. Und ich denke an Euer vielseitiges, buntes, sich ergänzendes und wohltuendes Engagement.
Die Bestimmung der Hoffnung als „Durchquerung des Unmöglichen“ der französischen Philosophin Corine Pelluchon prägte einen Adventsgottesdienst. Darin finde ich die Menschen wieder: Von früher, von heute, aus dem „Le Dorothy“ und Euch. Merci beaucoup!
Ich wünsche Euch ein friedvolles Weihnachtsfest und Hoffnung, die Euch im Jahr 2026 bestärkt, dem uralten Wort für Menschen treu zu bleiben.
Mit den herzlichsten Grüßen – Pax et Bonum!
Peter Bernd
„Gott. Mit diesem Wort ist zu wenig gesagt, um es so ohne weiteres zu benutzen. Es kann alles und nichts bedeuten. Es ist, allgemein gesprochen, die Andeutung einer Übermacht, die Menschen in die Knie zwingt: eine Macht, welche Menschen unterdrückt, nach unten drückt. In diesem besonderen Fall des biblischen Gottes aber ist es die Macht, die nach unten gedrückte Menschen auf den Weg in eine Welt führt, in der das Leben schlicht und einfach gut ist.“
Dick Boer, in: Dick Boer, Erlösung aus der Sklaverei, Münster 2008

Im Café “Le Dorothy” am 27.9. erzählt Thibault Delarue über diesen besonderen Begegnungsort als Ort des Wortes. Junge linke Katholik:innen haben das Projekt auf die beine gestellt. (Foto: P. Bernd)
